Alfred Brendel, der große Pianist des 20. Jahrhunderts, Ehrenpatron unserer Gesellschaft und (erster) Träger des Franz Liszt Ehrenpreises schrieb in einem Essay 1986, Franz Liszt sei vielleicht „der größte Neiderreger der Musikgeschichte“ gewesen und deshalb neben Joseph Haydn zu dem „am häufigsten mißverstandenen unter den bedeutenden Musikern“ geworden, eben postum durch Missachtung gestraft. „Sein früher europäischer Erfolg als Virtuose und Improvisator ließ an jenen Mozarts denken. Liszts Fähigkeiten als Pianist und ‚Genie des Ausdrucks‘ (Schumann) wiesen selbst einen Chopin, einen Mendelssohn und eine Clara Schumann in ihre Schranken. Esprit und Vielseitigkeit, männliche Schönheit, der gesellschaftliche Glanz eines Emporkömmlings und ein Liebesleben am Rande des Skandals erwiesen sich in dieser Konstellation als schwer verzeihlich, zumal jene mildernden Umstände fehlten, die den Nachruhm der Genies zu garantieren pflegen: Mozarts und Schuberts früher Tod etwa, die Legende von Mozarts Verarmung und Vergiftung, Schuberts Syphilis, Beethovens Taubheit, Chopins Schwindsucht oder Schumanns Wahnsinn.“ (Alfred Brendel, Über Musik, München 2005, S. 308 f.) Die besondere Vielseitigkeit Liszts umreißt Brendel ein paar Seiten später in schönster Eintracht angeblich „höherer“ und „niederer“ Tätigkeiten einer Persönlichkeit mit „Komponist, Virtuose, Dirigent, Lehrer, Schriftsteller, Leser, Liebhaber, Salonlöwe, Freund und Helfer anderer Musiker, Abbé, unermüdlich Reisender, Whistspieler, Zigarrenraucher und Cognactrinker.“
Franz Liszt wird am 22. Oktober 1811 in Raiding, einem kleinen Dorf in der westungarischen Tiefebene (Komitat Ödenburg, heute Sopron) geboren. Sein Vater ist hier Verwalter eines Schäfereibetriebes des Fürsten Esterházy und ein leidenschaftlicher Musikliebhaber. Was Wunder, dass er dies in seinen (einzigen) Sohn Franciscus (so der Taufname) zu übertragen sucht und dem etwas schwächlichen Knaben ab 1817 Klavierunterricht gibt. Was überraschende Entwicklungen bewirkt, sodass Vater Liszt seinen Sohn schon 1820 in Ödenburg und Preßburg (Bratislava) als pianistisches Wunderkind öffentlich präsentiert. Auf die Erfolge des Zehnjährigen hin gibt die Familie 1822 ihre Existenz in Raiding auf und siedelt zur besseren Ausbildung des Sohnes nach Wien über. Der erwirtschaftet von nun an das Einkommen der dreiköpfigen Familie, leidet allerdings andererseits lebenslang am Komplex, außer vier Jahren Volksschule keine „anständige“ Schulbildung erfahren zu haben. Aufgewogen wird dies in Wien durch den knapp einjährigen ausgezeichneten Klavierunterricht bei Carl Czerny, dem Schüler Beethovens, der – von Franz‘ Fortschritten begeistert – ihn unentgeltlich unterweist, und durch den Theorieunterricht bei Antonio Salieri. Schon am 13. April 1823 gibt der mit Mozart verglichene Wunderknabe sein Wiener Abschiedskonzert, u. a. mit Hummels h-Moll-Klavierkonzert. Die Fama, der anwesende Beethoven habe ihn im Anschluss auf die Stirn geküsst, ist allerdings nur ebendies, also eine schöne Legende. Unbezweifelbar aber ist seit diesem Wiener Jahr die absolute Vorbildrolle Beethovens für Liszt, lebenslang.
Vater Liszt drängt es für seinen Sohn über Wien hinaus, in die Kulturhauptstadt Europas Paris und zum dortigen Conservatoire. Das wird zunächst zum schmerzlichen Misserfolg, denn die berühmte Ausbildungsstätte bleibt dem 12-jährigen Knaben – da Ausländer – verschlossen. Er ist von nun an pianistisch auf sich gestellt. Und sein Vater nutzt seine Kunst. „Le petit Litz“, wie die Franzosen ihn nennen, begeistert als „neuer Mozart“ das Publikum in den Pariser Salons und auf Konzertreisen 1824-1827 in vielen Orten Frankreichs, der Schweiz und Englands mit seinem pianistischen Können. Kompositorisch bildet er sich daneben erst bei Ferdinand Paër, dann bei Anton Reicha weiter.
Unvermittelt stirbt während einer Kur in Boulogne-sur-Mer im August 1827 Vater Adam Liszt. Der Sohn gibt nun in Paris vor allem Klavierstunden, um den Lebensunterhalt für seine Mutter und sich zu verdienen. Eine unglückliche, d. h. von deren Vater untersagte Liebesbeziehung zu einer adligen Schülerin 1828 stürzt ihn in eine Lebenskrise, in der der alte Wunsch, Priester zu werden, wieder aufbricht. Er lebt nun zurückgezogen, liest unablässig philosophische und religiöse Schriften. Erst die Ereignisse der Julirevolution 1830 lösen den introvertierten 18-Jährigen aus dieser Sphäre. Befeuert durch intensive Kontakte zu Schriftstellern (Hugo, Heine, Balzac, George Sand, Musset, Dumas, Lamartine, Lamennais), zu Rossini, Bellini und Meyerbeer und den Malern Delacroix und Ingres erwacht ein ganz anderer junger Mann. Die Freundschaften zu Hector Berlioz seit Anfang 1831 und zu Frédéric Chopin seit Anfang 1832 regen ihn ebenso an und fordern ihn heraus wie der überwältigende Eindruck eines Konzertes von Niccolò Paganini im April 1832. Von nun an geht es ihm darum, es dem mit einer überaus virtuosen Klaviertechnik gleichzutun. Die freundschaftliche Partnerschaft mit der innovativen Klavierbauerfamilie Érard hilft beiden Seiten.
Auch in erotischer Hinsicht geht es mit der Liaison zur Gräfin Laprunarède im Januar 1831 vorwärts. Die Liebesbeziehung zur Gräfin Marie d’Agoult seit 1833, einer verheirateten Schönheitskönigin der Pariser Salons, gewinnt schließlich ernste Konturen. 1835 verlassen beide Paris, um in der Schweiz zusammen der Geburt ihres ersten Kindes entgegenzuleben; im Dezember wird Blandine in Genf geboren. Franz übernimmt im Winterhalbjahr unentgeltlich eine Klavierklasse am Genfer Konservatorium. Nach längeren Aufenthalten wieder in Paris verbringt das Paar den Sommer 1837 als Gast Georges Sands auf dem Schloss Nohant und dann in Italien. Am 24. Dezember dieses Jahres wird Cosima in Como geboren, im Mai 1839 folgt in Rom Daniel. Da ist der nunmehrige dreifache Vater schon inmitten seines Konzerttournee-Jahrzehnts, das ihn in „Saus und Braus“, wie er es selbst später charakterisierte, kreuz und quer durch Europa führt.
Den Auftakt machen im April/Mai 1838 triumphale Konzerte in Wien, im März 1839 spielt er in Rom als allererster Pianist ein Konzert allein, erfindet also das, was wir heute Rezital nennen. Den sensationellen Höhepunkt erreicht die unvergleichliche Erfolgsgeschichte in einer Serie von 21 Konzerten Anfang 1842 in Berlin. Berlin ist aus dem Häuschen, die Erscheinungsformen der Verzückung insbesondere des weiblichen Publikums ähneln denen der Popstar-Events unserer Zeit. Die geografischen Extrempunkte bei den 2000 bis 3000 Konzerten des Jahrzehnts erreicht Liszt in Dublin (Tournee britische Inseln, Januar 1841), St. Petersburg (Russland-Tournee, April/Mai 1842), Gibraltar (Spanien-Portugal-Tournee, Anfang 1845) und Konstantinopel (Ukraine-Türkei-Tournee, Juni 1847). Die Familie trifft sich 1841-1843 im Sommer zur Erholung auf der Rhein-Insel Nonnenwerth, bevor sich das Paar 1844 trennt. Mit dem nahen Bonn ist für Liszt die Ehrung Beethovens zum 75. Geburtstag 1845 verbunden. Zu dem da errichteten Denkmal hat er die entscheidende Summe beigesteuert. überhaupt ist seine Freigiebigkeit inzwischen legendär. Insbesondere für soziale Zwecke gibt er viele Benefizkonzerte.
Ziemlich genau in der Hälfte seines Lebens – wir Nachgeborenen bemerken dies im Wissen um die Gesamtzeit – bricht Liszt seine Virtuosenkarriere so jäh ab, dass das kulturelle Europa darüber verdutzt den Kopf schüttelt. Während eines Erholungsaufenthaltes 1847 auf dem Gut seiner neuen Lebenspartnerin, der überaus reichen polnisch-russischen Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein, im ukrainischen Woronince südlich von Kiew reift der von ihr massiv, als ihre Mission, unterstützte Entschluss, sich ganz auf das Komponieren großer symphonischer und geistlicher Werke zu konzentrieren. Als Ort dafür wählen sie Weimar, in der Mitte Deutschlands und Europas gelegen, berühmt wegen der vier Koryphäen, die hier um 1800 die deutsche Literatur zu klassischer Höhe bereichert hatten. Die die kulturelle Entwicklung des kleinen Großherzogtums lenkende Großherzogin Maria Pawlowna ist darüber hinaus Schwester des Zaren, was für die Scheidung der Fürstin hilfreich sein könnte. Und dies auch deshalb, weil sie sich schon seit 1841 bemüht, die gegenwärtige, verblassende kulturelle Repräsentanz ihres Hofes durch den berühmten Klaviervirtuosen Liszt zu verstärken. Seit 1842 ist er „außerordentlicher“ Weimarer Hofkapellmeister. Nun, 1848, wird er es richtig, dabei aber in exzeptioneller Weise, d. h. er macht nur das, was er will. Liszt und die Fürstin leben am Rande der Stadt, jenseits seiner Bürger, die über das neue Pärchen zumindest den Kopf schütteln, in einem Stadtpalais, das nach dem Hügel heißt, auf dem es rechts der Ilm seit 1811 steht: die Altenburg. Ein Vierteljahrhundert später reflektiert Liszt diese neue Phase seines Lebens mit „Sammlung und Arbeit in Weimar“. Er sammelt sich und er sammelt und überarbeitet sein bisheriges Œuvre. Er arbeitet mit der Weimarer Hofkapelle an der Aufführung zeitgenössischer Musik, insbesondere der Opern des bald im Schweizer Exil verschwinden müssenden Richard Wagner, dem er den Weg zur Weltgeltung von Weimar aus bahnt, und er schafft selbst neue symphonische Werke – eine große Reihe „Symphonischer Dichtungen“ und zwei Symphonien in Beziehung zu Goethes „Faust“ bzw. Dantes „Göttlicher Komödie“ sowie mit der „Graner Messe“ sein erstes großes geistliches Werk. Zwei Klavierkonzerte und der „Totentanz“, die „transzendenten“ Etüden und die nach Paganini, die beiden großen Zyklen der „Wanderjahre“ (Schweiz und Italien) werden in die endgültige Fassung gebracht. In jenen Weimarer Jahren entsteht der größere Teil seines Gesamtwerkes. Vergessen wir dabei nicht die grandiose h-Moll-Klaviersonate von 1853, eine der genialsten klavierkompositorischen Leistungen überhaupt, vier Jahre später von seinem Lieblingsschüler Hans von Bülow in Berlin uraufgeführt. Auch das Unterweisen einer handverlesenen Reihe junger Pianisten und Komponisten gehört zum Leben in der „Altenburg“, die längst ein Kunstzentrum europäischen Ranges ist.
Die Uraufführung von Wagners „Lohengrin“ 1850 gelingt, die von Peter Cornelius‘ „Der Barbier von Bagdad“ im Dezember 1858 wird zum Theaterskandal. Eine Gruppe von Opponenten wohl aus dem Theater selbst stört durch gut organisiertes Zischen die Vorstellung der neuen heiteren Oper von Anfang an. Liszt weiß, dass er selbst mit dieserart tückischen Demonstration gemeint ist. Er zieht sich zurück. Seiner exzeptionellen Anstellung entsprechend kann er machen, was er will. Er hat ein Jahrzehnt lang auch hier viel gewollt und geleistet, er will nun hinsichtlich der Oper nicht mehr. Die Hofkonzerte leitet er weiter bis zu seiner Umsiedlung 1861 nach Rom. Zuvor organisiert er noch für August 1861 in Weimar die Gründungsversammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins, mit dem die überbordenden musikalischen Parteikämpfe eingegrenzt werden sollen. Die „Zukunftsmusik“ Liszts und des von ihm initiierten „Neuen Weimar“ mit seinen und den Werken Wagners war, Berlioz einbeziehend, inzwischen unter dem Begriff „Neudeutsche Schule“ subsumiert worden, gekennzeichnet als Werke in stark außermusikalischen Zusammenhängen, Programmmusik, Musik mit einer stark poetischen Bindung, dazu insbesondere harmonisch kühn. Dagegen hatte sich eine auf traditionell rein musikalisches Komponieren gerichtete Gruppe u. a. mit Johannes Brahms öffentlich gewandt.
Im Oktober 1861 trifft Liszt in Rom ein, um zu seinem 50. Geburtstag die Fürstin zu heiraten – was an abermaligen Winkelzügen ihrer Familie misslingt. Beide leben nun in Rom eher neben- als miteinander. Liszt bearbeitet die Ausgabe aller Beethoven-Sinfonien für Klavier zweihändig und konzentriert sich auf die Komposition seiner großen geistlichen Werke. 1865 empfängt er die niederen Weihen, wird also Weltgeistlicher, Abbé. Und wiederum, wie 1848, schüttelt Europa den Kopf und lacht, einen neuen Joke vermutend. Dabei ist es Liszt auch jenseits seiner Kontakte zu Papst und Vatikan-Kreisen bitter ernst damit, sozusagen eine Lebenskonsequenz. Nach der spektakulären Aufführung seiner „Legende von der heiligen Elisabeth“ im Palas der Wartburg 1867 wendet er sich wieder Sachsen-Weimar zu, bezieht Anfang 1869 eine ihm vom großherzoglichen Paar zur Verfügung gestellte und eingerichtete Wohnung in der Beletage der „Hofgärtnerei“ am Weimarer Ilmpark und lebt hier bis zu seinem Tod in den Sommermonaten innerhalb eines alljährlich zwischen Rom, Budapest (wo er 1875 Präsident der neuen ungarischen Musikakademie wird) und Weimar dreigeteilten Lebens. Er unterrichtet Scharen von Klavierschülern und -schülerinnen, die ihm folgen wie ein Schweif dem Kometen. Und er komponiert, seltsam abgemagerte, aufs Äußerste verknappte Klavierstücke mit wenig freundlichen Titeln. Richard Wagner (nun in Bayreuth) mag darin nur „Zeichen keimenden Wahnsinns“ erkennen. Der Harmoniker Liszt überwindet schließlich die Grenzen der Tonalität („Bagatelle ohne Tonart“ 1886). In Vorbereitung seines 75. Geburtstages von Anhängern eingeladen, erlebt der berühmteste lebende europäische Musiker im Frühjahr 1886 noch einmal in Lüttich, Antwerpen, Paris und London Triumphe, und dies nicht nur als Virtuosenlegende, sondern auch als Komponist. Der 75. Geburtstag selbst wird allerorts posthum mit Gedenkkonzerten gefeiert – drei Monate zuvor war er am 31. Juli während der Festspiele in Bayreuth gestorben und dort auch beigesetzt worden.
Ein romanhaftes Leben, möglicher Gegenstand gleich mehrerer Romane. Ein großes kompositorisches und schriftstellerisches Werk, viele Tausende von Briefen. Und Probleme damit in jenen national orientierten Zeiten, da national schwer zu vereinnahmen. Wohin gehörte er, der sich selbst 1856 als „Halb Franziskaner, halb Zigeuner“ bezeichnet und später bitter beklagt hatte, er säße zwischen allen Stühlen? Ein paradigmatischer Europäer, wie er zum 200. Geburtstag 2011 in Thüringen gefeiert wurde, 100 Jahre nach dem hier vor allem vom Schleier des Vergessens die Rede war? Wie auch immer, hier in Weimar hat seine Generalerbin Marie von Hohenlohe-Schillingsfürst die Erinnerungsmomente vereinigt und dazu 1887 einer Liszt-Stiftung kräftig finanziell ins Leben geholfen. Die hat sich dann neben der Förderung junger Musiker vor allem mit der ersten Gesamtausgabe der Kompositionen (1907-1936, 33 Bände, unvollendet) einen Namen gemacht.
Indessen – siehe oben die Bemerkungen Alfred Brendels – hat sich lange Zeit nicht nur die Musikpraxis, sondern auch die Musikwissenschaft in Deutschland um Liszt nicht gerade verdient gemacht. Noch immer fehlt, was bei namhaften Komponisten vergangener Jahrhunderte einfach üblich ist: ein Thematisches Werkverzeichnis, und die Gesamtausgaben der Kompositionen, der Schriften, der Briefe in jeweils editorisch hoher Qualität. Die Gesamtausgabe der Schriften, verantwortet von Detlef Altenburg, dem Gründungspräsidenten unserer Gesellschaft 1990-1998, ist dankenswerterweise allerdings weit gediehen. Und vergessen wir nicht das exemplarische Konzeptfestival von Ururenkenlin Nike Wagner, Ehrenpatronin unserer Gesellschaft. Sie hat in ihrem Kunstfest Weimar „pèlerinages“ 2004-2013 überzeugend demonstriert, wie man heute an das Neue Weimar Liszts würdig erinnern und seine Ideen gleichzeitig weitertragen kann …
Wolfram J. Huschke