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Nachdem das Lisztjubiläum 1961 den entscheidenden Impuls für die Verwirklichung der Neuen Liszt-Ausgabe gegeben hatte, war das auslösende Moment für die drei anderen großen Projekte der Lisztforschung: das Werkverzeichnis, die Ausgabe der Sämtlichen Schriften und die Ausgabe der Briefe das Lisztjahr 1986. Entscheidende Impulse gab auch hier eine internationale Konferenz, zu der wiederum Budapest eingeladen hatte. Auch die Lisztstadt Paris lud Forscher aus aller Welt zu einem Symposion ein, und die American Liszt Society veranstaltete einen großen Kongress. Während Eisenstadt damals immerhin mit dem Thema Liszt heute eine Bilanz zog, war es Weimar nicht vergönnt, auf internationaler Ebene aktiv zu werden. Die Hochschule veranstaltete zwar eine kleinere Arbeitstagung, war aber angesichts der besonderen politischen Bedingungen nicht in der Lage, das Lisztjahr in dem angemessenen internationalen Rahmen zu begehen. Das vielleicht wichtigste Ergebnis neben den Weimarer Liszt-Studien, die die Referate der Arbeitstagung dokumentierten, war die Auswahlausgabe von Briefen aus Weimarer Archiven. Demgegenüber kann die Bedeutung der Lisztkonferenzen und -kongresse in Budapest, Paris und den USA für die internationale Lisztforschung kaum hoch genug bewertet werden, denn sie lösten nicht nur eine international intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit Liszt aus, sondern waren auch wichtige Wegbereiter für eine intensivierte Auseinandersetzung mit Liszt im Musikleben und – wie erwähnt – Motor für die drei großen Projekte Werkverzeichnis, Schriftenedition und Briefausgabe.


Das von Peter Raabe, ausgehend von der Katalogisierung der Weimarer Bestände, erstellte Werkverzeichnis war, zumal mit Raabes Ergänzungen der zweiten Auflage, eine wissenschaftliche Pionierleistung ersten Ranges. Nach den ungezählten Beiträgen zur Quellenforschung nach dem Zweiten Weltkrieg – richtungweisend waren hier Humphrey Searle, Bernhard Hansen, Mária Eckhardt und Rena Charnin Mueller – erwies sich Raabes Verzeichnis zunehmend als unvollständig, in der Dokumentation der Fassungen als unzureichend und in vielen Datierungen als korrekturbedürftig. Mit dem Werkverzeichnis von Humphrey Searle 1954, später revidiert im New Grove (1980) abgedruckt, wurde mit eigener Zählung ein Verzeichnis vorgelegt, das dem aktuellen Forschungsstand der Zeit entsprach. Zu den dringendsten Desideraten der Lisztforschung zählt indes noch immer ein Thematisches Verzeichnis seiner Werke, das die Fragen der Werkgenese und die Grundlagen der Datierung dokumentiert. Zwei parallele Projekte (Mária Eckhardt/Rena Charnin Mueller und Leslie Howard/Michael Short) haben sich dieser Aufgabe gewidmet, sind bislang aber noch nicht zum Abschluss gelangt.


Liszts kunsttheoretische Schriften wurden – allerdings nicht vollständig – von La Mara (Bd. 1) und Lina Ramann bereits zu Liszts Lebzeiten 1880–1883 publiziert. Bei den in den Gesammelten Schriften vorgelegten Texten handelt es sich um Übersetzungen und deutsche Bearbeitungen der ursprünglich teils in französischer, teils in deutscher Sprache erschienenen Schriften. Die deutschen Bearbeitungen nahm Ramann großenteils auf der Grundlage älterer Übersetzungen vor. Sie weichen von dem von Liszt autorisierten Wortlaut des Erstdrucks zum Teil erheblich ab. Die kritische Ausgabe der Sämtlichen Schriften (hrsg. von Detlef Altenburg 1989 ff.) greift demgegenüber auf die von Liszt für den Druck bestimmten Fassungen zurück und macht die Texte – soweit sie ursprünglich in französischer Sprache erschienen – im französischen Original sowie in deutscher Übersetzung zugänglich. Im Zusammenhang mit der Dokumentation der Entstehung der Schriften, von denen zum Teil Autographe Liszts existieren, wurde die lange Zeit kontrovers beantwortete Frage der Verfasserschaft geklärt.


Mit der achtbändigen Ausgabe der Briefe Liszts (1893–1905), der dreibändigen Ausgabe der Briefe an Liszt (1895 und 1904), des Briefwechsels mit Hans von Bülow (1898), mit Großherzog Carl Alexander (1909) sowie der Briefe an die Mutter (1918), die sämtlich von La Mara (Marie Lipsius) herausgegeben wurden, scheinen auf den ersten Blick gute Voraussetzungen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Leben und Werk geschaffen zu sein. Die Ausgaben erschließen mit 2.844 Briefen indes nur einen Bruchteil seiner mehr als 12.000 Briefe umfassenden Korrespondenz und kennzeichnen zudem nicht die Auslassungen. Zahlreiche neue Briefeditionen auf hohem wissenschaftlichem Niveau haben – insbesondere in Verbindung mit der Bibliographie der Briefe von Charles Suttoni (1989/1989/1999) – in den letzten Jahrzehnten die Situation nachhaltig verbessert, so u. a. die Ausgaben von Margit Prahács 1966, Dezső Legány 1984, Hans Rudolf Jung 1987, Klára Hamburger 1996, 2000, Pauline Pocknell 2000, Serge Gut und Jacqueline Bellas 2001, Michael Short 2002 und Rossana Dalmonte 2006.


Die eigentlich erforderliche Bündelung aller Projekte war sowohl 1961 als auch 1986 noch völlig utopisch, obwohl sich bei allen Projekten rasch herausstellte, dass im Grunde nur bei einer parallelen Bearbeitung aller vier Projekte unter einem Dach oder in enger Kooperation jene Qualität und Effizienz zu erzielen ist, die einem derart komplexen Œuvre und einer so komplizierten Quellenlage angemessen ist. Sowohl der Editor der musikalischen Werke und der Schriften als auch der Bearbeiter eines Werkverzeichnisses ist dringend auf die Briefe angewiesen, weil nur so Datierungsfragen und die Genese der Werke valide zu klären sind. Zwar kam für die Neue Liszt-Ausgabe und das Projekt des Werkverzeichnisses eine solche Kooperation zustande, weil sie in Budapest im Prinzip unter einem Dach angesiedelt sind, aber der zeitlich versetzte Beginn der Projekte führte dazu, dass bei vielen der Bände der ersten Serie der Gesamtausgabe die Erkenntnisse des in Vorbereitung befindlichen Werkverzeichnisses nicht mehr genutzt werden konnten. In einigen Fällen dürfte dies dazu führen, dass die Bände eines Tages in einer neuen Ausgabe erscheinen müssen. Enthält die erste Serie die sogenannten Originalwerke für Klavier, so brachte die zweite Serie die Bearbeitungen und Transkriptionen. Die Serie der Supplementbände ist inzwischen weit fortgeschritten. Zeitweilig schien es, als würde nach dem Abschluss der zweiten Serie das Erscheinen der Neuen Liszt-Ausgabe eingestellt. Die Nachricht, dass Editio Musica sich entschlossen hat, die Ausgabe fortzuführen, stimmt im Hinblick auf die Zukunft hoffnungsfroh. Für die Orchesterwerke wird allerdings für unbestimmte Zeit nach wie vor die Carl-Alexander-Ausgabe die einzige wissenschaftliche Edition bleiben. Nur für die Symphonische Dichtung Les Préludes steht ergänzend die von Rena Charnin Mueller besorgte kritische Neuausgabe zur Verfügung. Es ist zu hoffen, dass die noch fehlenden Werkgruppen so bald wie möglich in der Neuen Liszt-Ausgabe verfügbar werden. Man muss leider feststellen, dass für Liszt die Chancen für eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ungleich schlechter stehen als für Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Maria von Weber sowie für seine Zeitgenossen Mendelssohn, Schumann, Wagner und Brahms.