Unter den Musikerbiographien des 19. Jahrhunderts hat von Anfang an diejenige von Franz Liszt in einem ungewöhnlichen Ausmaß die Fantasie der Zeitgenossen beflügelt. Die Zahl der seit 1835 erschienenen Lisztbiographien ist kaum zu überblicken. Und es ist nicht zu übersehen, dass das Interesse an vordergründigen Aspekten der Biographie der wissenschaftlichen Erschließung seiner Musik zum Teil direkt abträglich war. Über keinen der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts wurde lange Zeit hindurch mehr geschrieben und weniger geforscht als über Franz Liszt, obwohl Lina Ramann noch zu Lebzeiten des Komponisten (1880) den ersten Band der ersten umfassenden Biographie vorlegen konnte. Mit der zweibändigen Monographie von Peter Raabe war dann 1931 nach dem ersten Schritt hin zu einer wissenschaftlichen Lisztforschung bei Julius Kapp ein Stand der Forschung erreicht, mit dem Leben und Werk auf breiter Quellenbasis wissenschaftlich erschlossen schienen. Einen ersten Schritt zur Neubewertung nach dem Zweiten Weltkrieg leistete Klára Hamburger mit ihrer Lisztbiographie. Die Monographien von Alan Walker (1983–1996) und Serge Gut (1989), die gleichermaßen Leben und Werk berücksichtigen, haben in den letzten Jahrzehnten insbesondere in der Recherche der biographischen Fragen, der Chronologie und der Würdigung seiner Musik neue Maßstäbe gesetzt, ohne allerdings den elementaren Problemen der Quellenlage ausweichen zu können. Leider haben der zweite und dritte Band der Biographie von Walker nicht ganz die hohen Erwartungen einlösen können, die der erste seinerzeit geweckt hatte. An Liszts Musik führt diese Monographie nur bedingt heran. In diesem Punkt ist die 2009 erschienene, gründlich überarbeitete deutsche Ausgabe der Lisztbiographie von Serge Gut deutlich ergiebiger.
Gegenüber der Grundlagenforschung auf den Gebieten der Edition der musikalischen Werke, des Thematischen Verzeichnisses und der Erschließung der Briefe konnte die Lisztforschung auf dem Gebiet der Detailstudien in Werkmonographien und in der Rezeptionsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg einen wahren Boom verzeichnen. Nachdem die Idee und die Konzeption der Symphonischen Dichtung seit Alfred Heuß 1911 in immer neuen Ansätzen thematisiert wurden und die Faust-Symphonie spätestens seit der grundlegenden Studie von László Somfai zu einem der von der Musikwissenschaft am intensivsten wahrgenommenen Werke Liszts zählte, konzentrierte sich das Interesse zunächst nachhaltig auf das weit auf das 20. Jahrhundert vorausweisende Spätwerk sowie auf die Einflüsse Bachs, Beethovens, Schuberts und neuerdings auch Schumanns. Über den zahlreichen Detailstudien, Tagungsbeiträgen und Dissertationen ist nicht zu übersehen, dass die entscheidenden Schritte zu einer neuen Qualität der Lisztforschung jeweils immer von einzelnen Forscherpersönlichkeiten ausgingen. Zu erwähnen ist hier Arnold Schering, der gleich eine ganze Reihe von Dissertationen über Liszt angeregt hat, darunter auch die Arbeiten von Heinrichs und Bergfeld. Zu nennen ist für die siebziger und achtziger Jahre vor allem aber Carl Dahlhaus, der die Lisztforschung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland wieder salonfähig gemacht hat und mit seinen Studien zu Liszts Idee der Programmmusik, der Symphonischen Dichtung und zu dessen Kompositionstechnik ganz entscheidend zu einem neuen, differenzierten Lisztbild beigetragen hat.
Mit der im Umfeld des Jubiläumsjahres 1986 deutlichen Intensivierung der Lisztforschung verabschiedete sich die Wissenschaft langsam auch mehr und mehr von den liebgewonnenen Klischees des 19. Jahrhunderts und der unsinnigen Diskussion um Liszts nationale Identität, auch wenn Topoi wie jener von Liszt, dem Salonlöwen, oder Themen wie Liszt und die Frauen gerade in der populären Lisztliteratur auch 2011 weiterhin wahre Urständ feiern. Wenn in der Lisztforschung immer wieder mit der Tendenz der Überakzentuierung die Frage nach den ungarischen Stileigentümlichkeiten oder der Position Liszts in der deutschen Tradition der Symphonik thematisiert und mit Nachdruck darauf hingewiesen wurde, dass die wichtigsten stilistischen Elemente der Lisztschen Tonsprache französischer Provenienz seien, so scheint latent auch im ausgehenden 20. Jahrhundert noch immer ein Hauch der einseitigen nationalen und gelegentlich auch nationalistischen Vereinnahmung durch, die nur zu leicht den Blick für die herausragenden künstlerischen Konzeptionen des im deutschsprachigen Teil Westungarns geborenen und in Wien und Paris ausgebildeten Europäers Liszt verstellt, die in einem hohem Maße an der Idee der Weltliteratur im Sinne Goethes orientiert sind und deren historische Bedeutung gerade in der Synthese so heterogener Elemente wie Beethovenscher und Schubertscher Formkategorien, Schumanns Konzept der poetischen Musik, ungarischer Stileigentümlichkeiten und literarisch inspirierter Gattungsnormen liegt.
Als entscheidender Schritt in der Lisztforschung hin zu einem neuen philologischen Bewusstsein nach dem Zweiten Weltkrieg sind die grundlegenden Arbeiten zu Liszts Skizzen und zur Werkgenese zu werten. Mit ihrer Dissertation über das Tasso-Skizzenbuch leistete Rena Charnin Mueller einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung des Schaffensprozesses bei Liszt und schuf damit eine der methodischen Grundlagen für ein Thematisches Werkverzeichnis. In der Dissertation von Michael Saffle sowie in den zahlreichen Publikationen von Mária Eckhardt und Untersuchungen wie jenen von Sharon Winklhofer zur h-Moll-Sonate, Jay Rosenblatt zu Liszts Klavierkonzerten, Paul Munson zu den Oratorien, Paul A. Bertagnolli zu Liszts Symphonischer Dichtung Prometheus und zu seinen Chören zu Herders Entfesseltem Prometheus sowie mit Adrienne Kaczmarczyks Beiträgen zur Revolutionssymphonie und zum Totentanz fand die Lisztforschung in den letzten Jahrzehnten den Anschluss an die internationalen Standards der musikalischen Quellenforschung. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, sich mit weiterführenden Fragen wie jenen zum Schaffensprozess bei Liszt und zu seinem musikalischen Denken auseinanderzusetzen.