Zahlreiche wichtige Fragestellungen hat die Lisztforschung indes nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer nicht näher untersucht. So fehlt, um nur ein Beispiel zu nennen, noch immer eine grundlegende Studie zu Liszts Instrumentationstechnik. Die von Christina-Maria Willms vorbereitete Dissertation zur Instrumentation der Symphonischen Dichtung Prometheus könnte ein entscheidender Schritt sein zu einer Schärfung des Bewusstseins für die strukturelle Bedeutung der Instrumentation und der Klanglichkeit in Liszts symphonischem Schaffen.
Zu den seit Jahrzehnten immer wieder angemahnten Desideraten der Lisztforschung zählt schließlich auch eine fundierte Geschichte der Neudeutschen Schule, genauer gesagt eine Untersuchung zur ästhetischen und stilistischen Substanzgemeinschaft der Vertreter der Fortschrittspartei. Man mag über die Problematik des Schulbegriffs streiten und sich an der Frage des Deutschen reiben, die schon von den Zeitgenossen diskutiert wurde, die Tatsache, dass zeitweilig die Gruppierung Berlioz, Wagner und Liszt als eine gemeinsamen ästhetischen und stilistischen Prinzipien verpflichtete Richtung propagiert und zum Teil auch als solche wahrgenommen wurde, ist nicht von der Hand zu weisen. Sie steht im Kontext einer bis vor wenigen Jahren nicht untersuchten Kontroverse, deren Erforschung gegenwärtig Gegenstand des DFG-Projektes Die Neudeutsche Schule ist, das gegenwärtig am Institut für Musikwissenschaft Weimar–Jena durchgeführt wird und dessen erste Ergebnisse im kommenden Jahr vorgelegt werden sollen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Eventkultur des Jahres 2011 hat uns allen Liszt im Musikleben in einem bemerkenswerten Maße nahe gebracht. Allein Thüringen wartete unter dem Motto Franz Liszt. Ein Europäer in Thüringen mit 200 Veranstaltungen auf und widmete ihm ein eigenes Themenjahr. Die Stadt Bayreuth feierte ihn und feiert ihn auch in diesen Tagen mit nicht weniger als 150 Veranstaltungen. Und das Lisztomania Festival in Raiding, seinem Geburtsort, hat Konzertbesucher aus ganz Europa mit dem Sound of Weimar aufhorchen lassen. Die Berichte über die Lisztfestivals und Lisztausstellungen haben Liszt medial in einem Ausmaß präsent werden lassen wie nie zuvor. Liszt hat, um in der Sprache der euphorischen Bizentenar-Enthusiasten zu bleiben, auf den internationalen Konzertpodien ein einzigartiges Revival erlebt. In diesen Tagen wird das Spektrum bereichert um die für unsere Zeit entscheidende Komponente: Die großen Massenmedien, Rundfunk und Fernsehen, zünden in ganz Europa vor dem 22. Oktober, am Geburtstag selbst und unmittelbar danach ein wahres Feuerwerk zu Ehren der wohl komplexesten und auch kompliziertesten unter den Musikerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Nach dem noch immer unvergessenen Ken Russel mit seinem Film Lisztomania, der in Liszt das Lebensgefühl der damaligen Generation projizierte, das nur aus dem Umfeld der Popkultur einer Niki de Saint Phalle heraus zu verstehen ist, treten 2011 ungezählte Dokumentarfilme in den Mittelpunkt des Interesses. Der MDR produzierte zwei Lisztfilme, ARTE förderte in den verschiedenen europäischen Ländern gleich drei oder vier Filme und konzentrierte sich in der deutschen Dokumentation auf die letzten 25 Jahre seines Lebens. Im Rahmen unseres Weimarer Kongresses werden Cecil Lytle (Liszt in the World) und Ophra Yerushalmi (Liszt’s Dance with the Devil) ihre beiden in den USA produzierten Filmprojekte vorstellen. Und auch die Musikwissenschaft stimmte in den internationalen Wettbewerb um die noch unterbewerteten Aspekte der Lisztinterpretation ein. Utrecht, New York, Heidelberg, Ottawa, Rennes, Dijon, Straßburg, Rom, Weimar, Bayreuth, Oberschützen, Budapest lautet der Parcours der diesjährigen Lisztkongresse, dem niemand, der sich wissenschaftlich mit Liszt beschäftigte, gänzlich entgehen konnte.
Die Eventkultur des Jahres 2011 beschenkt Liszt zu seinem 200. Geburtstag mit seiner Musik und mit ungezählten Dokumentarfilmen in aller Welt, die Musikwissenschaft tut dies mit Ausstellungen und Kongressen. Angesichts der Beobachtung, dass gerade die Jubiläumsjahre es waren, die für die Lisztforschung nicht nur in einem ganz allgemeinen Sinne dem kulturellen Gedächtnis immer wieder neue Impulse vermittelt haben, sondern vor allem auch für die Forschungsgeschichte von ganz entscheidender Bedeutung waren, stellt sich die Frage, was unsere Generation zur Erschließung des Œuvres von Liszt beigetragen hat. Unsere Hoffnungen richten sich, so können wir uns exkulpieren, auf den zeitnahen Abschluss der großen Projekte, der Neuen Liszt-Ausgabe, des Thematischen Werkverzeichnisses, der Schriftenausgabe und der Briefedition. Eine fertige Gesamtausgabe seiner musikalischen Werke oder seiner Schriften und Briefe haben wir 2011 ebensowenig zu bieten wie ein wissenschaftlich fundiertes Werkverzeichnis auf dem Niveau des Köchelverzeichnisses oder des Brahms-Werkverzeichnisses. Unter diesen Vorzeichen ist das Thema unseres Weimarer Kongresses mit einem gewissen Hintersinn gewählt. Mit dem Schwerpunkt auf der Frage der Interpretation soll einmal mehr das Kardinalproblem der heutigen Lisztforschung ins Blickfeld gerückt werden. Denn Interpretation ist nur auf der Basis gesicherter Quellenerschließung möglich. Wenn die Kongresse dieses Jahres zu einer Initiative führen, dass es für die Erschließung von Liszts Werk zu einer ähnlichen internationalen Kooperation kommt, wie dies für Bach und Mozart, für Beethoven, Berlioz, Brahms und Wagner möglich wurde, dann hat das Lisztjahr 2011 jene Nachhaltigkeit erzielt, die frühere Generationen unter ungleich schlechteren Bedingungen für das Œuvre Liszts erzielt haben. Eine umfassende digitale Erschließung sämtlicher Handschriften und der zeitgenössischen Drucke könnte ein erster Schritt sein, eine angemessene Plattform für die Zugänglichkeit der Überlieferungsträger seiner Musik zu schaffen. Wenn die International Liszt Association als internationaler Dachverband der nationalen Lisztgesellschaften in Ungarn selbst im zweiten Anlauf nicht in das Vereinsregister aufgenommen wurde, weil die internationale Besetzung des Vorstandes offenbar nicht im Einklang mit ungarischem Vereinsrecht steht, so könnte die ILA unabhängig von derartigen Absurditäten und Formalitäten doch in der Sache die treibende Kraft für ein derartiges Unternehmen werden. Weimar mit seinen Lisztressourcen im Goethe- und Schiller-Archiv wäre der naheliegende Standort für die Verwirklichung solch eines internationalen innovativen Unternehmens. Die Hoffnung, dass damit die Liszt-Bizentenarfeiern jene Nachhaltigkeit für die Zukunft erzielen könnten, die manche der erwähnten Schwierigkeiten der Quellenerschließung schlagartig überwinden würden, stimmt positiv. Die Referate und Diskussionen der nächsten Tage und des noch kommenden Lisztkongresses in Budapest könnten Ausgangspunkt für ein derartiges weiterführendes Projekt sein. In diesem Sinne freue ich mich ganz besonders auf unsere gemeinsamen Liszt-Interpretationen der nächsten Tage und wünsche Ihnen und uns allen ertragreiche Referate, intensive Diskussionen und anregende Gespräche.